Mittwoch, 15. Mai 2013

Viet Nam: Jedermanns Geburtstag bringt Tausenden den Tod



Die Welt 30.01.1998
Vor 30 Jahren überraschte der Vietkong die Amerikaner mit der "Têt"-Offensive - trotz einer Niederlage brachte sie die Wende im Krieg
Am 30. Januar 1968 begann die Têt-Offensive des Vietkong gegen alle großen Städte Südvietnams. Sie endete für die Kommunisten mit einer militärischen Katastrophe: 40 000 Gefallene. Dennoch läutete sie den Rückzug der USA ein, denn sie bestärkte die amerikanische Gesellschaft in ihrem Glauben, daß der Krieg nicht zu gewinnen sei. Ein Augenzeugenbericht. Berlin/Saigon - Die Franzosen wußten, was kommen würde. Zwei Tage vor Têt war ich Gast ihrer Militärmission in Laos. Sie besaß bei Paksé ein Erholungsheim. Dort wollte ich mich entspannen. In Saigon würde zum Mondneujahrsfest schon nichts passieren, dachte ich, beide Seiten hatten ja eine Waffenruhe ausgerufen. Aber der Heimleiter, ein Major, riet mir: "Kehren Sie nach Saigon zurück. Dort wird's zu Têt ein Feuerwerk geben. Aber ein richtiges." Ich folgte seinem Rat. Ich hatte Saigon noch nie so ausgelassen gesehen. Zum ersten Mal seit Monaten ist das nächtliche Ausgehverbot aufgehoben. Über 500 000 festlich gekleidete Menschen begrüßen das neue Jahr mit Knallfröschen. Têt ist jedermanns Geburtstag. Ich lege mich schlafen. Um drei wache ich auf; es kracht noch immer. Der Platz vor meinem Fenster im Hotel "Continental" ist gespenstisch leer. Selbst die weißuniformierten Polizisten, die normalerweise das Parlament schräg gegenüber bewachen, sind weg. Jetzt begreife ich, daß ich keine Knallkörper höre, sondern Kalaschnikows. Ich eile dem Lärm entgegen. Auf dem Trottoir gegenüber der US-Botschaft komme ich mir vor wie in einem absurden Theater. Kleine Männer in schwarzen Pyjamas stürmen die Botschaft, werden aber immer wieder zurückgeworfen. Auf ihrem Dach springen GIs aus Hubschraubern. Neben mir mache ich ein Paar Füße in Wollsocken und Sandalen aus und denke: Das kann nur ein Deutscher sein. Ich sehe ihn mir näher an, er trägt eine Bundeswehrmütze und die Rangabzeichen eines Majors: der stellvertretende Militärattaché. Er starrt auf meine nackten Füße. Wir müssen beide lachen: zwei unzureichend beschuhte Deutsche nebeneinander als Zaungäste einer der bizarrsten Episoden der Zeitgeschichte.Bei Morgengrauen zieht sich der Vietkong zurück und läßt seine Gefallenen auf dem Trottoir vor dem Machtzentrum seines Gegners wie Unrat liegen. Im "Continental" hat WELT-Korrespondent Friedhelm Kemna den jüngsten Lagebericht: "Großoffensive in allen wichtigen Städten". Gemeinsam schreiben wir unsere Artikel; bald darauf trennen wir uns. Kemna bleibt in Saigon, wo noch tagelang in vielen Stadtteilen weitergekämpft wird. Ich will nach Huë. Die alte Kaiserstadt ist fest in nordvietnamesischer Hand. Ich bange um Freunde: den Kinderarzt Professor Horst-Günther Krainick und seine Frau Elisabeth. Krainick, ein frommer Katholik, hatte seinen Lehrstuhl in Freiburg aufgegeben, um für 1500 Mark im Monat an der Universität Huë eine medizinische Fakultät zu gründen. In seiner Freizeit behandelt er im Umland Kranke und Verwundete beider Seiten. Auf dem Flughafen Phu Bai, 15 Kilometer südlich von Huë, schließe ich mich einem Zug der 3. US-Marineinfanteriedivision an. Es gilt, die von Kommunisten umzingelte Kaserne des amerikanischen Militärberaterstabs freizukämpfen. Am Stadtrand sehen wir, daß der Vietkong ein Massaker angerichtet hat. Da liegen Hunderte toter Zivilisten, alle noch im Festgewand. Eine Mutter hatte sich offenbar schützend auf ihre Kinder geworfen, sie wurden erschossen. Wir steigen über die Leichen greiser Mandarine mit dünnen weißen Bärtchen. Der Vietkong hatte sie per Genickschuß liquidiert - ausgerechnet sie, Mitglieder des fremdenfeindlichen Beamtenadels, für dessen Haltung das Graffito an der Residenz der Kaiserinmutter typisch war: "Chât dau my", schneidet den Amerikanern die Gurgel durch. Später werden wir frisch aufgeschüttete Massengräber entdecken, aus denen Frauenhände mit frischlackierten Fingernägeln ragen. Diese Vietnamesinnen waren offensichtlich lebendig in die Grube geworfen worden. Die Apologeten des nordvietnamesischen Führers Ho Chi Minhs in den Vereinigten Staaten und Europa werden die Existenz dieser Gräber bestreiten; wir schreiben das Jahr 1968, in dem Ideologie mehr zählt als die Tatsache, daß die Kommunisten in Huë über 3000 Zivilisten umgebracht haben. Abends dringen wir zur Kaserne der amerikanischen Militärmission am Südufer des "Flusses der Wohlgerüche" vor. Ich blicke nach Norden zu der einst zauberhaften, jetzt verwüsteten Altstadt. Über der Zitadelle weht die Vietkong-Fahne: rot und blau mit einem gelben, fünfzackigen Stern. Es ist eiskalt. Wir müssen auf dem Betonfußboden schlafen. Unsere Decken sind Leichensäcke aus olivfarbenem Kreppapier. Zwischen uns watschelt eine verhaltensgestörte weiße Gans herum; sie war in die Kaserne geflüchtet und zupft nun, Anschluß suchend, an unseren Leichensäcken. Am Morgen will ich zu Krainicks Wohnung im vierten Stock eines Plattenbaus in der Cité Universitaire. Ich hatte erfahren, daß der Vietkong sie und zwei andere deutsche Ärzte, Raimund Discher und Alois Alteköster, entführt hatte. Die Kommunisten waren mit Namenslisten und Photos in Huë von Haus zu Haus gegangen, um "Klassenfeinde" festzunehmen, auch die Deutschen. Denn die DDR und Hanoi hatten die humanitäre Hilfe der Bundesrepublik in Südvietnam - die zweitgrößte nach der amerikanischen - als "Kriegsverbrechen" angeprangert. Diese Propagandalüge wird später mehrere Deutsche das Leben kosten. Auf dem Weg zur Cité Universitaire begleite ich eine Gruppe Ledernacken. Ihr Anführer ist der schwarze Obergefreite Rufus. Aus einem Fenster zielen Scharfschützen auf uns. Wir werfen uns zu Boden. Rufus "besprüht" das Fenster mit Salven aus seinem Schnellfeuergewehr; so hatte er es bei seiner Ausbildung für Straßenkämpfe gelernt. Da rennt eine Frau aus dem Haus. Sie trägt die durchsiebte Leiche ihres kleinen Jungen im Arm. "Oh my God!" schreit Rufus, springt auf, wirbelt wie ein Derwisch im Kreis, wirft sich wieder zu Boden und bleibt zuckend liegen. Seine Kameraden tragen ihn weg. 20 Jahre später werde ich in den USA vielen Kriegsteilnehmern wie ihm begegnen: alle seelisch gestört, viele mit täglichen Alpträumen, in denen sie die Gesichter der Kinder sehen, die sie in ähnlichen Situationen getötet haben, ohne es zu wollen. In Krainicks Wohnung liegt ein Zug Marineinfanteristen. Das Wohnzimmerfenster ist offen. Aus der Villa gegenüber schießen Vietkong-Scharfschützen in die Professorenunterkunft. Unten hat ein Panzer seine Kanone auf das Haus gerichtet. Wenn er feuert, bebt der Plattenbau. Ich sorge mich um Krainicks wertvolle Sammmlung von Hinterglasgemälden und nehme sie von der Wand, damit sie nicht nicht auf dem Fußboden zerschellen. Der Zugführer ist ein törichter Leutnant aus Arizona, 23 Jahre alt. Ohne kugelfeste Weste und Stahlhelm läuft er im weißen T-Shirt vor dem Fenster auf und ab. Ich brülle: "Fordern Sie nicht Ihr Schicksal heraus!" Er: "Sir, Sterben ist unser Geschäft!" Fünf Minuten später packt er sich ans Herz, ruft wie alle sterbenden Soldaten erst nach seiner Mutter, dann nach Gott, rennt ins Treppenhaus, fällt die Stufen hinter und bleibt zwei Etagen tiefer tot liegen. Sechs Wochen später werden die Krainicks in einem Massengrab entdeckt. Die Vietkong hatten ihnen die Arme hinter dem Rücken mit Draht gefesselt und sie per Kopfschuß liquidiert. In einem anderen Gemeinschaftsgrab liegen Discher und Alteköster. Die Obduktion wird ergeben, daß sie erst Wochen nach der Têt-Offensive getötet worden waren. Um drei Uhr nachts überquert die Einheit, der ich mich angeschlossen hatte, den Fluß, um sich von Haus zu Haus bis zur Verbotenen Stadt vorzukämpfen. Nach zwölf Stunden hat sie 300 Meter erobert, und von 53 Ledernacken sind noch zehn am Leben. Ich setze mich ab und schlage mich zu einer Landezone für Hubschrauber am Flußufer durch. Kein Helikopter kommt; das Wetter ist zu schlecht. Hunderte von Schwerverwundeten auf Bahren und Hunderte von Gefallenen in Papiersäcken warten auf ihren Abtransport. Bevor ich ein Landungsboot besteige, das mich nach Danang bringen soll, beobachte ich einen Gefreiten, der die Leichensäcke öffnet, um die Toten anhand ihrer Erkennungsmarken zu identifizieren. Plötzlich brüllt er auf. Er hat in einem Sack seinen besten Freund wiedererkannt. 20 Jahre später werde ich ihn in einem Krankenhaus für Veteranen in Minnesota wiedertreffen: ein alkoholsüchtiges Wrack. Die amerikanische Gesellschaft, die das Unheil des Kriegs in Vietnam (der rund 60 000 Amerikaner und weit mehr als eine Million Vietnamesen das Leben gekostet hat) aus der Ferne beobachtete, wird ihn wie die meisten seiner Kameraden, als "Babykiller" verteufelt haben. Sein Pfarrer hat ihn womöglich sogar aus seiner Kirche verbannt. Und jede Nacht wird der Veteran im Traum wieder in Huë sein, einen Leichensack öffnen und das Gesicht seines toten Freundes sehen.